Der rote Sekundenzeiger blitzt vor meinen Augen auf, auch
wenn ich sie fest verschließe. Der kleine Scheißer ist so verdammt
aufdringlich. Mit hämmerndem Ticken setzt er Sekunde für Sekunde einen Schritt
und schreit mir ins Ohr, wie die Zeit vergeht. Er brüllt lauter als die
piepsenden Monitore und die ratternden Tragen auf dem Gang, lauter als die
lauten Stimmen der Pfleger und Krankenschwestern und Ärzte, als die Schreie der
Patienten, die immer mal wieder zu mir durchdringen. Um mich herum herrscht
Lärm in der Notaufnahme, aber alles, was ich höre, ist dieser rote
Sekundenzeiger. Und alles, was ich sehe, ist weiße sterile Wand und die
Bewegungen des kleinen Zeigers. Mein Blickfeld ist eingeschränkt, mein Körper
liegt verdreht auf dem Bett und meine Welt schrumpft auf dieses Bild: Rasender
roter Zeiger auf weißer Wand. Endlose Kreisbewegungen. Pi mal irgendwas hoch
zwei und ich kann berechnen, wie viel Strecke der rote Blitz am Tag zurücklegt.
Oder auch nicht. Wahrscheinlich eher nicht. Ich konzentriere mich auf nichts,
auf alles, auf irgendwas. Nur um nicht verrückt zu werden. Ich schaue die ganze
Zeit schon auf die Uhr und beobachte den Zeiger und weiß trotzdem nicht, seit
wann ich hier bin. Es kommt mir vor wie Stunden, aber irgendwie auch erst wie
Minuten, vielleicht auch Sekunden oder ich bin gar nicht wirklich hier. Zeit und Raum
schrumpfen zusammen und es bleibt mir nur Liegen und Atmen und das ewige Kreisen
des roten Zwergs. Was interessiert mich
auch die Zeit, ich hab ja eh nichts mehr vor. Nur warten und warten und warten.
Menschen betreten den Raum, in dem ich liege. Ich höre sie. Aber ich kann sie
nicht sehen. Sie grüßen mich nicht, sagen nichts zu mir, laufen nur gehetzt
durch die Gegend. Ich bin Luft. Vielleicht habe ich mich wirklich schon
aufgelöst. Vielleicht wird das Zimmer gleich nochmal belegt. Eine Schwester
betritt den Raum, eine alte Dame am Arm. Wenn Sie sich jetzt kurz hier hinlegen
würden, Frau Werauchimmer. Ruhen Sie sich aus, der Doktor wird gleich bei Ihnen
sein. Wie lange das dauert, fragen Sie? Da kann ich Ihnen leider gar nichts zu
sagen. Da kann immer ein Notfall dazwischenkommen. Aber der Doktor weiß
Bescheid. Na klar. Jeder weiß hier Bescheid. Nur ich nicht. Man redet ja nicht
mit mir. Aber das ist mir auch egal. Ich versuche, den flitzenden roten
Sekundenzeiger mit meinem inneren Willen zum Stillstand zu bewegen. Ich rede
ihm gut zu und tatsächlich verlangsamt er seine Bewegungen. Nur um dann wieder
schneller zu werden und seine Runde monoton fortzusetzen, als hätte er mich gar
nicht bemerkt. Verrückt. Ist das hier. Ich glaube, ich liege schon zu lange
hier. Ich glaube, ich verliere zu viel Blut. Hallo Herr Doktor, wissen Sie
Bescheid? Ich liege hier und werde verrückt. Nein, das kann nicht sein. Ich bin
ja schon verrückt. Die pulsierende Wunde an meinem linken Arm erinnert mich
daran. Oh, wie ist denn das passiert? Mh, selbstverletzt. Oh, achso, rollende
Augen und schnelle Schritte, etwas Abstand, niemand ist zuständig hier. Also
außer meinem Freund, der gute Kleine, der schöne Rote, der schnelle Läufer, der
zeitanzeigende rote Blitz. So oft wie er schon zugeschaut hat, wie viele
Krankheitsgeschichten er schon in sich aufgesogen hat, wie viele einsame Seelen
schon ihn als einzigen Freund gewählt haben. Er wird schon wissen, wie das
geht. Ein bisschen Blutung stillen hier, ein paar Stiche setzen da, zukleben,
verbinden, die obligatorischen Fragen, Aber das ist nicht in suizidaler Absicht
geschehen? Aber in Therapie sind Sie, ja? Fäden ziehen in 12 Tagen, die Wunde
bitte sauber und trocken halten, den Arztbrief erhalten Sie dann gleich und
bitte sobald wie möglich zum Hausarzt, ja vielen Dank, auf Wiedersehen. Husch
husch, der nächste Patient wartet schon. Huch, wer ist denn da gerade in
wallendem weißen Mantel aus dem Zimmer gehuscht? War das etwa der Arzt? Bin ich
etwa schon fertig? Ich blicke den roten Sekundenzeiger fragend an, aber der
läuft nur weiter seine Runden, ignoriert mich eiskalt. Arroganter Mistkerl. Nach einem kurzen Zögern
richte ich mich vorsichtig auf, suche meine Sachen zusammen und verlasse
langsam trabend das Behandlungszimmer, die Notaufnahme, das Krankenhaus. Keine
Alarmglocken schrillen. Die Nacht empfängt mich kalt und dunkel. Ein kleiner
roter Strich, der ständig vor meinem Auge aufblitzt und Reigen tanzt, und ein
stechender Schmerz im linken Arm sind die einzigen Andenken dieser Nacht.