Samstag, 27. Juni 2015

Rasender roter Zeiger auf weißer Wand.

Der rote Sekundenzeiger blitzt vor meinen Augen auf, auch wenn ich sie fest verschließe. Der kleine Scheißer ist so verdammt aufdringlich. Mit hämmerndem Ticken setzt er Sekunde für Sekunde einen Schritt und schreit mir ins Ohr, wie die Zeit vergeht. Er brüllt lauter als die piepsenden Monitore und die ratternden Tragen auf dem Gang, lauter als die lauten Stimmen der Pfleger und Krankenschwestern und Ärzte, als die Schreie der Patienten, die immer mal wieder zu mir durchdringen. Um mich herum herrscht Lärm in der Notaufnahme, aber alles, was ich höre, ist dieser rote Sekundenzeiger. Und alles, was ich sehe, ist weiße sterile Wand und die Bewegungen des kleinen Zeigers. Mein Blickfeld ist eingeschränkt, mein Körper liegt verdreht auf dem Bett und meine Welt schrumpft auf dieses Bild: Rasender roter Zeiger auf weißer Wand. Endlose Kreisbewegungen. Pi mal irgendwas hoch zwei und ich kann berechnen, wie viel Strecke der rote Blitz am Tag zurücklegt. Oder auch nicht. Wahrscheinlich eher nicht. Ich konzentriere mich auf nichts, auf alles, auf irgendwas. Nur um nicht verrückt zu werden. Ich schaue die ganze Zeit schon auf die Uhr und beobachte den Zeiger und weiß trotzdem nicht, seit wann ich hier bin. Es kommt mir vor wie Stunden, aber irgendwie auch erst wie Minuten, vielleicht auch Sekunden oder ich bin gar nicht wirklich hier. Zeit und Raum schrumpfen zusammen und es bleibt mir nur Liegen und Atmen und das ewige Kreisen des roten Zwergs.  Was interessiert mich auch die Zeit, ich hab ja eh nichts mehr vor. Nur warten und warten und warten. Menschen betreten den Raum, in dem ich liege. Ich höre sie. Aber ich kann sie nicht sehen. Sie grüßen mich nicht, sagen nichts zu mir, laufen nur gehetzt durch die Gegend. Ich bin Luft. Vielleicht habe ich mich wirklich schon aufgelöst. Vielleicht wird das Zimmer gleich nochmal belegt. Eine Schwester betritt den Raum, eine alte Dame am Arm. Wenn Sie sich jetzt kurz hier hinlegen würden, Frau Werauchimmer. Ruhen Sie sich aus, der Doktor wird gleich bei Ihnen sein. Wie lange das dauert, fragen Sie? Da kann ich Ihnen leider gar nichts zu sagen. Da kann immer ein Notfall dazwischenkommen. Aber der Doktor weiß Bescheid. Na klar. Jeder weiß hier Bescheid. Nur ich nicht. Man redet ja nicht mit mir. Aber das ist mir auch egal. Ich versuche, den flitzenden roten Sekundenzeiger mit meinem inneren Willen zum Stillstand zu bewegen. Ich rede ihm gut zu und tatsächlich verlangsamt er seine Bewegungen. Nur um dann wieder schneller zu werden und seine Runde monoton fortzusetzen, als hätte er mich gar nicht bemerkt. Verrückt. Ist das hier. Ich glaube, ich liege schon zu lange hier. Ich glaube, ich verliere zu viel Blut. Hallo Herr Doktor, wissen Sie Bescheid? Ich liege hier und werde verrückt. Nein, das kann nicht sein. Ich bin ja schon verrückt. Die pulsierende Wunde an meinem linken Arm erinnert mich daran. Oh, wie ist denn das passiert? Mh, selbstverletzt. Oh, achso, rollende Augen und schnelle Schritte, etwas Abstand, niemand ist zuständig hier. Also außer meinem Freund, der gute Kleine, der schöne Rote, der schnelle Läufer, der zeitanzeigende rote Blitz. So oft wie er schon zugeschaut hat, wie viele Krankheitsgeschichten er schon in sich aufgesogen hat, wie viele einsame Seelen schon ihn als einzigen Freund gewählt haben. Er wird schon wissen, wie das geht. Ein bisschen Blutung stillen hier, ein paar Stiche setzen da, zukleben, verbinden, die obligatorischen Fragen, Aber das ist nicht in suizidaler Absicht geschehen? Aber in Therapie sind Sie, ja? Fäden ziehen in 12 Tagen, die Wunde bitte sauber und trocken halten, den Arztbrief erhalten Sie dann gleich und bitte sobald wie möglich zum Hausarzt, ja vielen Dank, auf Wiedersehen. Husch husch, der nächste Patient wartet schon. Huch, wer ist denn da gerade in wallendem weißen Mantel aus dem Zimmer gehuscht? War das etwa der Arzt? Bin ich etwa schon fertig? Ich blicke den roten Sekundenzeiger fragend an, aber der läuft nur weiter seine Runden, ignoriert mich eiskalt. Arroganter Mistkerl. Nach einem kurzen Zögern richte ich mich vorsichtig auf, suche meine Sachen zusammen und verlasse langsam trabend das Behandlungszimmer, die Notaufnahme, das Krankenhaus. Keine Alarmglocken schrillen. Die Nacht empfängt mich kalt und dunkel. Ein kleiner roter Strich, der ständig vor meinem Auge aufblitzt und Reigen tanzt, und ein stechender Schmerz im linken Arm sind die einzigen Andenken dieser Nacht.