Montag, 14. Oktober 2013

So verdammt unsichtbar.

Aus dem Nichts taucht er auf. Und ist plötzlich da. Überall, wo ich auch bin. Er kommt mir entgegen, wenn ich zur Schule gehe. Er sitzt auf der Bank in der Stadt, wenn ich zum Einkaufen laufe. Er überquert die Straße, wenn ich aus dem Fenster schaue.
Unvermittelt sehe ich ihn jeden Tag. Und kenne seinen Namen nicht. Weiß nicht, wo er wohnt, woher er kommt; wie er lebt, was er macht. Ich weiß nur: Er ist da.
In seinen beigen Klamotten - weite Jacke, helle Hose, immer einen Beutel dabei. Ich frage mich, was darin ist. Sind es Fotoalben? Das würde passen. Die Einkäufe, die er immer bei sich trägt? Erinnerungen? Sein Leben? Ist es alles, was er hat?
Oft überlege ich, mich neben ihn zu setzen, wenn er alleine auf einer grünen Parkbank sitzt. Mit ihm gemeinsam den Posten zu beziehen, den Tag zu beobachten.
Wen er wohl alles kennt? Was er wohl alles sieht? Er ist das Auge der Stadt, weiß über alles Bescheid. Und man kennt ihn nicht. Ob er Listen führt, darauf wartet, dass ihn jemand anspricht? Dass jemand die Mauer seiner Einsamkeit durchbricht?
Und warum er wohl so plötzlich immer da ist? Ist er unverhofft vereinsamt, seine Frau gestorben, seine Kinder weggezogen? Oder war er vielleicht schon immer da - jeden Tag, mein Leben lang - und ich habe ihn nur nie bemerkt?
Wie viele unsichtbare alte Menschen geistern wohl noch durch die Stadt? Wie viele haben ihren Tarnmantel umgelegt und begegnen mir doch - wie er - jeden Tag? Während ich an der Kasse stehe, an der Ampel warte, wie viele unsichtbare Augen folgen mir? Wohin müsste ich mich wenden, um sie alle zu sehen?

Der alte Mann sitzt heute wieder auf der Bank. Ich schaue ihn an, verlangsame meine Schritte, lächle ihn an und nicke ihm zu. Ich wende meinen Blick nicht von ihm ab. Doch er sieht mich nicht, sieht nur den Boden an. Eingefallen sitzt er da, eingefallen ist sein Leben - vielleicht, ich weiß es nicht. Gar nichts weiß ich.
Und ich gehe weiter, lasse ihn hinter mir. Heute sprechen wir nicht. Heute setze ich mich nicht. Heute kein Gespräch mit ihm.
Vielleicht ja morgen, vielleicht wage ich den Schritt. Vielleicht zeigt er mir dann den Inhalt seiner beigen Tasche, vielleicht erzählt er mir aus seinem Leben? Vielleicht verrät er mir seinen Namen und wir tauschen mehr als nur den einen Blick.

Plötzlich, einige Schritte weiter, außer Sichtweite des alten Herrn, durchzuckt mich ein Gedanke, voller Wucht: Was, wenn er morgen nicht mehr da ist? Wenn ich ihn nicht mehr finde, wenn er den Mantel der Unsichtbarkeit wieder umgelegt hat? Oder gar für immer von hier verschwunden ist, ohne dass ich ihn je gegrüßt habe, dass wir je ein Wort gewechselt hätten?
Ungekannt würde er verschwinden, namenlos ausradiert, ein Unsichtbarer weniger in der vollgelebten Stadt.

Ich würde dich vermissen, alter Mann!

2 Kommentare:

  1. Hoffen wkr einfach, dass er morgen noch da ist.
    Was anderes kann man sowieso wohl nicht wirklich machen...

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  2. Sehr, sehr schöner Blog und Texte.
    Jeden Tag kann es passieren, dass man Personen gerade noch gesehen hat und am nächsten Tag sind sie für immer außen Leben verschwunden. Als wären sie niemals da gewesen.
    Seelenschwester
    http://regenwieapplaus.blogspot.de

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