Mittwoch, 1. August 2012

Krieg. Ohne Ende.

Am Fenster fliegen die Bäume, die Menschen, das Leben vorbei. Stationen werden durchgesagt. 
"Bitte rechts aussteigen!" 
"Achtung, der Zug fährt ab!"
"Die Türen schließen."
Die nächste muss ich raus. 
Ich erhebe mich von meinem Fensterplatz, gehe die paar Schritte zur Tür, drücke auf den Knopf und trete hinaus.
Aber nur in meinen Gedanken. So stelle ich mir den Ablauf vor. So sollte es sein. So einfach.
In der Realität kann ich mich nicht bewegen. Ich sitze. Gewichte hängen an meinen Armen, an meinen Beinen, stecken in meinen Schuhen. Jede Bewegung fällt so schwer.
Ich benötige meine gesamte Willenskraft, mich selbst dazu zu bewegen, aufzustehen. Wie geht es nochmal? Wie macht man das? 
Ich muss mich an einer Stange festhalten, mich hochzuziehen, mich auf meine eigenen Beine zerren. Wie ein alter Mann brauche ich all meine Konzentration dafür, meine Körperteile davon zu überzeugen, nicht nachzugeben und mir zu gehorchen.
Zur Tür, nur ein kurzer Weg. Ein Fuß vor den anderen. Es ist so einfach. Es sollte so einfach sein. 
Jeder Schritt fordert unglaubliche Kräfte. Der Zug hält, die Türen öffnen sich, nicht so langsam, ich muss raus! 
Rechter Fuß.
Linker Fuß.
Rechter Fuß. 
Grooooooßer Schritt.

Und ich stehe am Bahnsteig. Ich schwitze am ganzen Körper. 
Ich kann nicht mehr stehen, brauche eine Bank. 
Wo ist die nächste?
Zu weit. Das traue ich mir nicht zu. Lieber einfach stehen bleiben. Ein stiller Appell an meine Beine, bloß nicht nachzugeben. Einfach das Gewicht halten. 
3 Minuten, dann kommt der Zug, in den ich einsteigen muss. Am Nachbargleis. 5 Schritte. 
Stehen bleiben.
Noch 2 Minuten. 
Ich kann nicht mehr atmen, bekomme keine Luft. 
Konzentration! 
Einatmen.
Ausatmen.
Noch eine Minute.
Nicht umfallen.
Luft rein.
Luft raus.
Der Zug kommt.
Ich sollte ein wenig näher ans Gleis treten. 
Er hält.
5 Schritte noch.
Die Türen öffnen sich.
Meine Beine bewegen sich nicht.
Ein Fuß vor den anderen.

Der Zug ist voll. Es ist heiß. Ich kann mich nicht hinsetzen. Stattdessen versuche ich mich gegen eine Scheibe zu lehnen. Ich kralle mich an zwei Stangen fest. Um die Balance zu halten. Und um die Beine zu entlasten, die kurz davor sind, einfach zusammenzuknicken. 
Es ist bloß eine Station, der Zug wird schon langsamer. 
Gut, dass ich so nah am Ausgang stehe.
Nur ein großer Schritt und ... 

Ich stehe wieder am Bahnsteig. 
Menschen laufen an mir vorbei, eilen zu den Ausgängen. Sie wollen weiter. Vielleicht nach Hause. Ich will auch weiter. 
Also wieder ein Fuß vor den anderen setzen. Gehen. 
Links.
Rechts.
Oh, atmen nicht vergessen!
Einatmen. Links.
Ausatmen. Rechts. 
So viel auf einmal. Mein Kopf droht zu platzen. Er scheint nicht in der Lage, zwei Sachen gleichzeitig zu koordinieren. 

Die Treppe scheint wie ein unüberwindbares Hindernis. 
Ich blicke an ihr hinauf und frage mich, ob ich es wohl je bis ganz nach oben schaffen werde.
Ich muss!
Also wieder volle Konzentration auf die Beine. 
Auf einer Stufe steht mit Graffiti "Nice smile" geschrieben. Ich liebe solche kleinen Botschaften. Ich würde sofort lächeln. Es würde mir gefallen. Ich würde Pläne schmieden, wie auch ich solche Sätze an öffentliche Plätze schreiben werde.
Aber nicht heute.
Heute rühren sich meine Mundwinkel nicht. Es wäre zu anstrengend.
Atmen und Beine.
Atmen und Beine.
Weiter.
Weiter.
Weiter.

Und ich muss noch weiter!
Die Straße entlang, ein Fuß vor den anderen setzen. 
Meine Arme hängen nutzlos an mir herab. Sie sind nur zusätzliche Gewichte, die meinen Körper beschweren. Ich würde sie gerne abschneiden. Vielleicht könnte ich mich dann schneller bewegen. Vielleicht wäre ich dann eleganter. Vielleicht könnte ich laufen. 
Ich konzentriere mich weiter auf meine Füße. 
Bloß nicht stehen bleiben. Einfach normal aussehen. Keiner soll ahnen, dass in mir ein Kampf tobt. 
Ich vs. Ich. Runde 4297.
Wer gewinnt, ist nicht klar. 
Ich versuche, meine Schritte zu zählen.
1
2
3
4
5
Weiter komme ich nicht, länger kann ich mich nicht darauf konzentrieren. Die Gedanken schwimmen in meinem Kopf wie vergessenes Gemüse in der Fleischsuppe. Es wird immer matschiger. Immer schwerer zu greifen.

Die Tür.
Öffnen.
Treppe. Hoch.
Nächste Tür.
Öffnen.
Rein.
Auf mein Bett fallen lassen.

Nicht mehr bewegen.
Nicht mehr atmen.
Liegen.
Liegen.
Liegen.

Ich bin angekommen.
Habe ich jetzt gewonnen
Oder verloren?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen