Donnerstag, 21. Juni 2012

Vom Tod der Stille.


Wenn man jetzt ganz still ist, kann man das Klappern von Tellern und Besteck hören. Manchmal auch die Worte der jungen Kellnerinnen: „Möchten Sie noch etwas? Ist alles gut bei Ihnen?“
Wahrscheinlich ist das bei niemandem der Fall. Wann ist schließlich schon mal alles gut? Wann merkt man im Leben, dass wirklich alles gut ist?
Das Geräusch, das ganz im Vordergrund liegt, sind die leisen Klavierklänge. Die Gäste lassen die Töne auf sich wirken und die verschiedenen Melodien verbinden sie mit ganz unterschiedlichen Dingen. Sie versinken in ihren Gedanken, ihren Gefühlen, in sich selbst. Sie kommen zur Ruhe. Sie werden eins mit der Musik. Fühlen sich verstanden.
Und auch der Klavierspieler fühlt sich verstanden. Auf eine andere Weise. Mit den Klängen erzählt er seine ganz eigene Geschichte. Er kehrt sein Innerstes nach außen, ist für diesen Moment verletzlich und angreifbar. Doch er weiß, er ist sicher. Auch die Zuhörer sind ganz mit sich selbst beschäftigt. Sie erkennen diese eine Botschaft des Musikers nicht, denken sich vielmehr ihre ganz eigenen.

Wenn man in diesem Raum ganz still ist, kann man nirgendwo Musik hören. Nur Rufe, Schreie, Lärm, Besteck, wie es über Teller kratzt, Schmatzen und Lachen. Alle Studenten sind hier versammelt, tun so, als würden sie nicht schmecken und nicht sehen, was sie so gierig in den Mund schieben.
Die Tische sind gut gefüllt. Bis auf einen.
Dort sitzt jemand ganz allein. In monotoner Handbewegung schiebt er sich einen Bissen nach dem anderen in den Mund. Sein Blick ist starr auf den Teller gerichtet, dennoch scheint er nicht wahrzunehmen, was vor ihm liegt.
Ein junger Mann bewegt sich durch den Raum und stößt dem Alleinsitzenden im Vorbeigehen mit der Hand gegen den Hinterkopf. Einige Zuschauer lachen, während der einsame Student seine Handbewegungen weiter ausführt. Er scheint auch nicht zu hören, was die anderen ihm zurufen. Nicht das Lachen, nicht die Worte. Woran er wohl gerade denkt? Ob er wohl in seiner eigenen Welt versinkt?
Auch als ein Mädchen ihm den Teller wegnimmt, bleibt sein Blick auf den Tisch gerichtet, die Gabel noch in der Hand. Fünf Leute stehen nun um ihn herum. Er ist nicht mehr allein, aber wahrscheinlich einsamer als zuvor.

Aus dem kleinen Restaurant an der Ecke sind wieder Klavierklänge zu hören.
Menschen sitzen sich an den vielen Tischen gegenüber und lächeln sich an. Sie sind froh, dass niemand spricht, dass niemand sprechen muss. Die Musik transportiert Gefühle. Und auch über die traurigen Moll-Klänge sind die Gäste froh, denn sie fühlen etwas, sie spüren sich und wissen, sie sind am Leben und mit ihren Emotionen nicht allein, auch wenn der Partner ganz andere haben mag.
Hier finden sie die Ruhe, die sie im Alltag verzweifelt suchen, wo, nicht zu reden, gleich Stille bedeutet. Stille und Stillstand. Stille, aus der Spannung folgt.
Hier weiß jeder zu schätzen, dass kein Wort gesprochen wird. Diese Art der Verständigung ist ehrlich und trifft die Menschen in ihrem tiefsten Kern.

An diesem Abend geht der einsame Student nicht wie sonst von der Uni direkt zu seinem Arbeitsplatz.
Er steht auf der Brücke der Stadt und blickt in das Wasser unter ihm. Wie es sich kräuselt, wie es der Strömung folgt, wie viele kleine Einzelteile ein großes Ganzen bilden. Es fließt immer weiter, nie bleibt es stehen. Ein ewiger Kreislauf, der Kreislauf des Lebens.
Der Student lächelt.
Die Oberfläche des Flusses ist glatt, er scheint ganz still dazuliegen und ist doch in Bewegung. Der Schein trügt. Unser Auge sieht, unser Gehirn meint zu verstehen, und gibt falsche Informationen weiter. Selbstbetrug und Fehleinschätzung. Wie oft so etwas wohl im Leben passiert, ohne dass man es merkt? Man hält sein eigenes Verständnis für das Richtige, oft, ohne es zu hinterfragen. Ja, ein Schein trügt oft.
Das Wasser wirft jetzt vereinzelt Wellen, die Brücke liegt verlassen im fahlen Licht der untergehenden Sonne.

An diesem Abend sitzen sich die Menschen im Restaurant schweigend gegenüber, wie immer. Doch die Stille ist unendlich laut, begräbt die Personen unter sich. Sie können nicht ausdrücken, was sie denken, was sie meinen, was sie fühlen. Gefühle bleiben ungefühlt.
Einige blicken sehnsüchtig auf die Tasten des Klaviers, die schwarz und weiß im fahlen Licht der Lampen liegen. Sie bewegen sich nicht, der Hocker bleibt heute unbesetzt.
Stille.

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