Donnerstag, 15. November 2012

Du hast es gut.

"Du hast es aber gut!", sagte der ältere Mann in der Bahn zum Jungen neben ihm. "Du gehst noch zur Schule;  solltest die Zeit genießen, in der du unbeschwert keine Entscheidungen treffen musst."
"Ja", entgegnete dieser leise. Während er angestrengt versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die beim Gedanken an die Schule in ihm aufkamen. Und er dachte an die blauen Flecke auf seinem Körper, die er so emsig versteckte, und die Jungs aus seiner Klasse, die ihn heute in der Umkleidekabine eingeschlossen hatten. An Lehrer, die ihn für die Vergehen der anderen bestraften, und an seine Eltern, die ihn nach schlechten Noten ins Zimmer sperrten.
Als er die Tränen auf seiner Wange spürte, drehte er den Kopf zum Fenster und wünschte sich, erwachsen zu sein.

"Du hast es aber gut!", sagte das junge Mädchen zu ihrer Mutter. "Musst nicht um acht im Bett sein und niemals Hausaufgaben machen."
"Das stimmt", antwortete sie mit zaghaftem Lächeln. Während sie daran dachte, dass ihr Mann abends wohl wieder betrunken nach Hause kommen würde, sie schlagen und sie seinen Gestank und sein Gebrüll ertragen musste. Und sie erinnerte sich an den Brief vom Gericht auf ihrem Schreibtisch, der sie aufforderte, die offenen Rechnungen zu zahlen. An ihre Mutter, die das Krankenhaus wahrscheinlich nie mehr verlassen würde, obwohl doch noch so viele Fragen offen und so viele Worte unausgesprochen waren.
Als sie Tränen in ihren Augen spürte, wendete sie sich den Kochtöpfen vor ihr zu und wünschte sich, wieder ein kleines Mädchen zu sein.

"Du hast es aber gut!", sagte die Jugendliche zu ihrer Klassenkameradin. "Du siehst gut aus, alle Jungs stehen auf dich und in der Schule bist du auch noch toll."
Die Angesprochene nickte schweigend. Doch in Gedanken konnte sie dieser Aussage nicht zustimmen, weil sie an ihren Freund denken musste; daran, wie er sie aufs Bett gedrückt hatte, wie er gesagt hatte, sie wäre auch nicht geiler als andere und wie er meinte, sie wolle das doch auch; niemand würde ihr glauben, niemand würde ihr zuhören. Und daran, wie sie abends im Bett lag, die Packung Schlaftabletten neben ihr und sie die kleinen Pillen nur nicht nahm, weil sonst niemand mehr ihr Kaninchen füttern würde.
Mit Tränen im Gesicht verließ sie das Klassenzimmer, schloss sich auf der Toilette ein und wünschte sich, ganz normal zu sein.

"Du hast es aber gut!", sagte der Jugendliche zu einem seiner Mitspieler aus dem Fußballverein. "Deine Eltern sind nicht so streng, lassen dich abends lange ausgehen und sind nicht sauer, wenn du eine schlechte Note hast."
"Ja, vielleicht", antwortete er, ohne aufzuschauen. Er dachte an die unendlich blauen Augen seines Gegenübers und daran, dass diese Schwärmerei niemals echte Liebe werden würde. An die intoleranten Sprüche seiner Freunde und Familie über "schwule Säue" und daran, dass niemand von diesen jemals verstehen könnte, wie sehr er sich davon angesprochen fühlte. An den Wunsch seiner Eltern nach Enkelkindern und an seine Zukunft als Ehemann einer Frau.
Die Tränen blieben ihm im Hals stecken und voller Wut trat er gegen den Ball, der in sauberem Bogen ins Toreck flog.
"Ja, ich hab es gut!", schrie er in Richtung des dunklen Himmels. "Aber du auch, verdammt!"

7 Kommentare:

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    1. Eine Geschichte in dem Sinne, als dass ich die Situationen nicht verfolgt habe und darüber berichte, sondern sie mir ausgedacht habe, ja.
      Aber die Botschaft ist keine Geschichte. Und auch selbst erlebt.

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  2. Was sollte ich jetzt dazu sagen? Traurig? ...

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  3. Gänsehaut, traurig, war, aufrüttelnd, alles zugleich. so viel.
    Darf ich mir den Text kopieren und in meinem Zimmer aufhängen?

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    1. Wenn der dir so gut gefällt, mach das! Gerne!
      Würde mich ja nur freuen, wenn der Text irgendwo rumhängt, wo er gewürdigt wird! (:

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  4. Bewegender Text! So emotional und zugleich so verdammt wahr. Gerade deshalb so unbeschreiblich traurig, da es eine unendliche Geschichte darstellt...
    Immer weiter führen könnte man das, was du so eindrucksvoll beschrieben hast. So viele Probleme, so viel Leid und so viel Kummer sind in dieser Welt, in jeder Situation und jedem von uns - aber das meiste bleibt unausgesprochen, verschwiegen, ungeahnt und für unmöglich befunden. Traurig.
    Ich habe großen Respekt vor deinem Schreibstil! Die Art wie du die Dinge niederschreibst ist beeindruckend! :)

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